Antisemitismus im Neuen Testament?!

In diesem Beitrag geht es um die Nachlese aus dem Gesprächsabend vom 25.04.2022 zu einem dunklen Kapitel der Bibelwissenschaften, das noch lange nicht genug aufgearbeitet ist: Antijudaistische Stellen im Neuen Testament und antisemitische Tendenzen in der Interpretation der Bibel.

Dies ist der erste Teil unserer Reihe des Theologischen Montags im Jahre 2022 mit dem Titel „Offen für alle(s)?“: Seit dem Zeitalter der Aufklärung verstehen sich westliche Gesellschaften zunehmend als „offene Gesellschaften“ und auch die Kirchen, die sich bewusst als Teil dieser Gesellschaft sehen, bemühen sich dialogbereit und integrierend – eben offen – aufzutreten. Doch sowohl in der biblischen Überlieferung als auch in der Kirchengeschichte und in der Gegenwart begegnen uns immer wieder Phänomene der Ab- und Ausgrenzung, wie etwa Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht, einer Ethnie oder Religionsgemeinschaft oder aber das Verabsolutieren der eigenen Meinung bis hin zur Wissenschaftsfeindlichkeit oder dem Glauben an Verschwörungserzählungen. In unserer neuen Reihe wollen wir der Frage nachgehen, wie offen unsere Kirche eigentlich war und ist und welchen Platz sie in einer offenen Gesellschaft einnehmen kann.

Eigentlich ist die Frage, ob antisemitische Grundhaltungen in unseren Kirchen und Gemeinden einen Platz hat, von allen großen protestantischen und katholischen Kirchen in Deutschland nach der Erfahrung der Schoah mit Vehemenz bestritten worden. Dazu gab es jahrzehntelange theologische Prozesse, die in offiziellen Verlautbarungen mündeten, z.B. die Reihe „Christen und Juden I–III“ (1975, 1991, 2000) der EKD. Jedoch bleiben antisemitische Haltungen in den Köpfen. Sie finden sich beispielsweise in den seit der Pandemie wieder aufgekommenen Verschwörungstheorien, aber auch in vielen Fällen unerkannt in den theologischen Lehrbüchern, in den Bibelauslegungen und Kommentaren und schlimmstenfalls auf der Kanzel.

Inhalt dieses Beitrags:

Begriffe

Antisemitismus meint Judenfeindschaft in Bezug auf eine konstruierte Rasse, einen konstruierten Status oder einen politischen Einfluss. Bezieht man sich in seiner Feindschaft ausschließlich auf die jüdische Religion spricht man von Antijudaismus. Antizionismus dagegen beschreibt die feindselige Haltung gegenüber dem Zionismus und dem Staat Israels.

Die klassischen Argumente für christlichen Antijudaismus sind folgende:

  • Absprache des Heils, des Status des Eigentumsvolks Gottes, des Bundes mit Gott
  • Ablösung des Judentums als das „Alte“, Auffassung das Christentum hätte das Judentum beerbt
  • Vorwurf der Tötung des Messias – „Gottesmörder“
  • einseitige Sichtweise – Juden als buchstabentreue Halter des Gesetzes, die dabei den eigentlichen Zugang zu Gott verkennen (insbesondere die Pharisäer)

Über viele Jahrhunderte war eine antijudaistische bzw. antisemitische Haltung auch und besonders in christlichen Kreisen leider völlig normal. Am Ende des 19. Jahrhunderts begann diese Haltung Formen anzunehmen, die schließlich in der Shoah gipfelten. Leider scheint sich nicht nur die neutestamentliche Wissenschaft davon zu wenig distanziert zu haben, auch in den Gemeinden werden antisemitische Vorurteile weiter unkritisch geäußert oder es wird sogar Verschwörungstheorien mit antisemitischen Inhalten angehangen.

Aus dem Giftschrank – Auszug aus einer „neutestamentlichen Fachzeitschrift“ von 1943

„e) Kampfmittel aus dem Alten Testament gegen das Judentum

Auch wo Jesus sonst gelegentlich sich auf das Alte Testament beruft, geschieht das nicht, um seine Übereinstimmung mit der heiligen Schrift des Judentums zu betonen, sondern weil er es im Kampf gegen das Judentum verwenden kann. Das Alte Testament ist ja ein religionsgeschichtliches Kompendium der Erscheinungswelt der Religion und enthält von den primitiven bis zu den hoch entwickelten Glaubensformen religiöse Überlieferungen vieler Völker und Rassen, die vom Judentum mittelbar oder unmittelbar aufgenommen und im Sinne des jüdischen Endziels, der Weltherrschaft durch das Mittel der Religion, bearbeitet wurden. Das eigentümliche Jüdische ist daher oft nur eine dünne Schicht von Zutaten der Bearbeiter, und manche Überlieferungen sträuben sich überhaupt dagegen, im Sinne des jüdischen Erwählungsanspruches verwendet zu werden. So greift Jesus aus der Fülle des Stoffes das heraus, was seinen Zwecken dient, ohne sich damit irgendwie an das jüdische Buch als solches zu binden. In seiner Nachfolge hat sich auch die christliche Gemeinde Waffen im Kampf gegen das Judentum aus dem Rohstoff der alttestamentlichen Überlieferungen geschmiedet. So wird man im einzelnen oft zweifelhaft bleiben, ob Jesus selbst ein bestimmtes Wort oder Beispiel aus dem Alten Testament aufgenommen hat, oder ob das erst die christliche Gemeinde getan ist [sic!].“

Aus: Georg Bertram, Jesus und das Buch, in: Walter Grundmann (Hg.), Germanentum, Judentum und Christentum. Studien zur Erforschung ihres gegenseitigen Verhältnisses, Bd. 3, Leipzig 1943, 347–422, 381.
An welchen Stellen wird das Judentum negativ beschrieben? Wie wird Jesus dargestellt?

Biogramme

Walter Grundmann

1906–1976, Studium der Theologie in Leipzig, Rostock, Tübingen, Dissertation bei Gerhard Kittel (1930–1932), seit 1932 NSDAP-Mitglied, 1934 Mitglied der SS, Mitglied der Deutschen Christen, 1936 ohne Habilitation Lehrstuhl an der Theologischen Fakultät Jena für „Neues Testament und Völkische Theologie“, Akademischer Direktor des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ (1939–1945), Mitarbeit am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, Verfasser zahlreicher Kommentare zum Neuen Testament, die heute noch als theologische Standardwerke gelten und verwendet werden, nach kurzer Pause nach dem Krieg erhielt er verschiedene Lehraufträge für den Nachwuchs im Verkündigungsdienst in Leipzig und Eisenach, wo er Generationen von Pfarrer:innen, Katechet:innen und Kirchenmusiker:innen prägen konnte.

Georg Bertram

1896–1979, Studium der Theologie, Promotion im Fach Neues Testament, ab 1925 Lehrstuhl in Gießen, Mitglied von NS-Lehrer- und -Dozentenbund, ab 1939 Mitglied am „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, ab 1955 Dozent an Goethe-Universität in Frankfurt.

Bis Dezember 2022 läuft eine Sonderausstellung in Eisenach über die grauenhafte Arbeit des genannten „Entjudungs-Instituts“: https://www.lutherhaus-eisenach.com/entjudungsinstitut. 

Schon nach dieser kurzen Probebohrung wird klar: Eine wirkliche Entnazifizierung bei den Theologen des 20. Jahrhunderts gab es kaum. Bis heute werden das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament und Kommentare aus dieser Zeit oder solche, die später wieder aufgelegt wurden, recht unkritisch zur Predigtvorbereitung oder in der Wissenschaft verwendet. Auch auf den ersten Blick unverdächtige Werke arbeiten unter Umständen mit einem Bild vom Judentum, das mindestens antijudaistisch geprägt ist, z.B. der Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Paul Billerbeck. Das hat Einfluss auf unser Bild auf das Judentum im 1. Jahrhundert und bis heute, auf unsere Interpretation von Jesus und Paulus und Stellen des Neuen Testaments, die einen Konflikt mit dem Judentum beschreiben. Ein frischer Blick auf das Judentum und eine nachträgliche Entnazifizierung unserer Bibelinterpretation ist daher zwingend notwendig!

Das Judentum des 1. Jahrhunderts

Römisch anmutende Säulen vor einer Steinwand: Die Reste der Synagoge von Kapernaum.
Die Synagoge in Kapernaum, Foto David Shankbone.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c2/Capernaum_synagogue_by_David_Shankbone.jpg

Quellen:

Monotheismus?! – Monolatrie!

Fremdbild eines Römers

„Die Juden gehen in ihrem Denken von nur einer einzigen Gottheit aus. Sie [halten] diejenigen für gottlos, die aus irdischen Materialien Bilder von Gott in der Menschen Weise herstellen. Jenes höchste und ewige [Wesen] ist weder nachahmbar, noch verschwindet es. Daher haben sie keine Götterbilder in ihren Städten, noch in ihren Tempeln aufgestellt. Sie schmeicheln ihren Herrschern nicht, noch ehren sie die Kaiser.”

Publius Cornelius Tacitus (58–120 n.Chr.), Historien, V,5.

Tatsächlich beten Jüdinnen und Juden im 1. Jahrhundert nur eine Gottheit an. Was viel weniger bekannt ist: Ihre Himmel waren trotzdem reich bevölkert mit Zwischenwesen. Engelgestalten waren im 1. Jahrhundert fester Bestandteil der jüdischen Kosmologie genauso wie Dämonen. Für die Griechen und Römer war die Anbetung von nur einer Gottheit (Monolatrie) eine seltsame Vorstellung. Sie kannten unzählige Göttinnen und Götter. Solche aus neuen Gebieten wurden dem bereits vorhandenen Pantheon angeglichen oder einverleibt. Auch einige Kaiser wurden nach ihrem Tod, manchmal schon zu Lebzeiten, als Götter verehrt (Kaiserkult). In griechischen und römischen Städten gab es oft eine große Anzahl von Tempeln, die jeweils ein Bildnis des zu verehrenden Gottes oder der Göttin enthielten. Daneben gab es zahlreiche Standbilder auf den Straßen und auf den Hausaltären in den Wohnhäusern. Im Judentum dagegen war die Herstellung von Götterbildern verboten:


‎ לֹֽ֣א תַֽעֲשֶׂ֙ה־לְךָ֥֣ פֶ֣֙סֶל֙׀ וְכָל־תְּמוּנָ֡֔ה אֲשֶׁ֤֣ר בַּשָּׁ֙מַ֣יִם֙׀ מִמַּ֡֔עַל וַֽאֲשֶׁ֥ר֩ בָּאָ֖֙רֶץ מִתַָּ֑֜חַת וַאֲשֶׁ֥֣ר בַּמַּ֖֣יִם׀ מִתַּ֥֣חַת לָאָֽ֗רֶץ׃
‎ לֹֽא־תִשְׁתַּחְוֶ֥֣ה לָהֶ֖ם֘ וְלֹ֣א תָעָבְדֵ֑ם֒
Du sollst für dich kein Götterbildnis herstellen und auch kein Abbild von etwas, was oben im Himmel ist oder von dem, was unten auf der Erde ist, oder von dem, was unter der Erde im Wasser ist.

2. Mose 20,4–5a

Entsprechend enthielt das Allerheiligste im Tempel in Jerusalem „nur“ die Bundeslade.

Die Torah

Im Griechischen wird für die fünf Bücher Mose der Begriff ὁ νόμος – ho nomos – „das Gesetz“ gebraucht (vgl. die Wortwahl von Paulus). Der Begriff zielt jedoch nicht nur auf die darin befindlichen Einzelregelungen, sondern genauso auf die Erzähltexte und weisheitlichen Stücke. Die Torah ist ein Identitätsmarker. Sie enthält die Anleitung dazu, wie jüdische Menschen im Einzelnen, aber auch das ganze Volk sich verhalten sollen, um in dem Bund mit ihrem Gott zu bleiben, der darin in mehrfacher Erneuerung beschrieben ist. Die Person des Mose spielte als Verfasser, Gesetzgeber und vorbildlicher Prophet im 1. Jahrhundert eine große Rolle. Flavius Josephus beschreibt die Bedeutung der Torah als Werbung für einen Außenstehenden folgendermaßen:

„Unsere Gesetze geben die beste Anleitung zur Gottesfurcht, zur Gemeinschaft miteinander und zur umfassenden Menschenfreundlichkeit sowie zur Gerechtigkeit, zur Ausdauer in Beschwerden und zur Todesverachtung.“

Flavius Josephus, Contra Apionem, 2,146.

Einige jüdische Gruppierungen des 1. Jahrhunderts im Überblick

Ähnlich wie die christliche Landschaft heute, gab es im 1. Jahrhundert kein einheitliches Judentum. Verschiedene Gruppierungen legten Wert auf unterschiedliche Dinge und hatten andere Arten ihre Schriften auszulegen und einen verschieden hohen Grad an Hellenisierung erfahren. Einige Gruppen begegnen im Neuen Testament, andere kennen wir nur durch die Beschreibungen des Flavius Josephus. Die Essener zum Beispiel werden mit der Gemeinschaft in Qumran in Verbindung gebracht, deren Bibliothek uns zum Teil erhalten ist.

SadduzäerEssenerPharisäerZeloten
CharakterOberschicht; Priesteraristokratie (Bezug zum Tempel; relativ gute Beziehungen zu den Römern)Absonderung nach der Makkabäerzeit (165 bis 63 v. Chr.), leben strenge Ideale, z.T. klösterlich, Kritik am Tempel„Mittelschicht“; seit Makkabäerzeit als reformerische Laienbewegung; ReinheitsidealPolitische Widerstandsbewegung seit der Volkszählung (6 n.Chr.)
TheologieErkennen nur Torah an; lehnen prophetische Endzeithoffnung und Messiaserwartung abBewusstsein eigener Erwählung; dualistische Weltsicht; erwarten GottesherrschaftTorah und mündliche Überlieferung; erwarten Gottesherrschaft, Messias, AuferstehungErwarten Gottesherrschaft – setzen sich „aktiv“ (Guerillakampf) dafür ein
Aus: Lernkarten Bibelkunde, Göttingen 2018.

Daneben gab es die Trägerkreise von apokalyptischem Gedankenguts, z.B. der Henochliteratur. Diese Kreise einten gewisse weitere Identitätsmarker.

Weitere Identitätsmarker

Fast alle diese Identitätsmarker waren für Griechen und Römer zum Teil fremd und sorgte für Vorbehalte. Ein freier Tag in der Woche konnte als Faulheit wahrgenommen werden. Die strengen Speisegebote hielten Juden unter Umständen von gemeinsamen Mahlzeiten mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn oder vom gesellschaftlichen Engagement ab, wo gemeinsame Mahlzeiten ein wichtiger Bestandteil waren. So gab es auch schon in der Antike antijudaistische Vorbehalte und auch lokale Verfolgungen (z.B. wurde der jüdische Tempel im ägyptischen Elefantine um 410 v.Chr. durch Ortsansässige zerstört).

Antijudaismus im 1. Jahrhundert

Der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus wettert zu Recht im zweiten Buch seiner Schrift zur Verteidigung des Judentums gegen Apion gegen eine alte, verleumderische Ritualmordgeschichte. Solche Geschichten trafen jedoch nicht nur jüdische Menschen in der Antike. Sie sind beispielsweise auch im Rahmen der Quellen um die Verschwörung um Catilina überliefert. Über die Jahrhunderte tauchen sie allerdings immer wieder in ähnlicher Form in antisemitischen Kontexten auf.

Diese Geschichte bildet ein Extrem. Woran sich Römer und Griechen wohl am meisten störten, war die jüdische Monolatrie. Die Verehrung möglichst vieler Göttinnen und Götter zum Wohle des Staates gehörte zur Bürgerpflicht in der Antike. Bei einer Enthaltung wurde der Zorn der Götter gegen den Staat gefürchtet. Der Vorwurf der Gottlosigkeit (Asebie) an die Juden war eine der heftigsten Anklagen, die zur Todesstrafe führen konnte. Dazu kam die gewisse politische Aufmüpfigkeit der Bewohner Palästinas. Immer wieder machten sie aus römischer Sicht Ärger, weil sie sich in ihrer religiösen Freiheit eingeschränkt fühlten. Dies gipfelte im jüdischen Krieg um 70 n.Chr. und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Andererseits genossen die Juden im römischen Reich auch gewisse religiöse Freiheiten und waren im gewissen Sinne attraktiv für Außenstehende. Wir haben viele Nachrichten von sogenannten Gottesfürchtigen und Proselyten in den Synagogalgemeinden. Gottesfürchtige waren Interessenten am jüdischen Glauben und Sponsoren nichtjüdischen Glaubens. Proselyten waren nichtbeschnittene Konvertiten.

Die Sache mit dem Christus

Viele jüdische Menschen im 1. Jahrhundert erwarteten einen Messias, eine rettende Heilsfigur, in der Regel als polititscher Befreier gedacht. Diese Hoffnung hörte auch nach dem Christusereignis für diejenigen nicht auf, die nicht zur Christusgruppe gehörten: Um 135 beispielsweise wurde Bar Kochba zu einer solchen Figur und von Rabbi Akiba zum Messias erklärt.

Die Gruppe, die sich zunächst um den lebenden Jesus, später um den auferstandenen Christus bildete, war demnach jüdische Gruppierung, die sich ganz innerhalb der jüdisch-hellenistischen Denkmuster bewegte und auch jüdische Identitätsmarker teilten. Jesus, die zwölf Jünger, auch Paulus waren und blieben Juden.

Wann kann man eigentlich von einem verfassten Christentum sprechen?

Im Judentum gab es im 1. Jahrhundert eine Ämterhierarchie, einen zentralen Kultort, eine heilige Schrift, auf die man sich beziehen konnte, festgelegte Identitätsmarker und Rituale sowie dezentrale Orte der Gemeinschaft (Synagogen). All das hatten Mitglieder der Christusgruppe frühestens im 3. Jahrhundert, eher im 4. Erst in dieser Zeit gab es eine offizielle Instanz, die zwischen rechter und falscher Lehre unterscheiden konnte. Bis dahin müsste man eigentlich vom den Christen als Anhänger einer jüdischen Splittergruppe sprechen. Die neutestamentliche Forschung nutzt daher heute Begriffe wie Jesus-Gruppe, Jesus-Bewegung oder Christus-Gruppe, um die Menschen der ersten Gemeinden zu benennen.

„Inzwischen kann es weitgehend als Konsens gelten, dass sich das Christentum, mindestens das der ersten drei Jahrhunderte, als eine ‚polymorphe Erscheinung’ erweist, ‚deren Identität erst im Erscheinen begriffen ist’. Die historischen Rekonstruktionen münden in neue Metaphern, etwa im Bild einer vielspurigen Autobahn, auf der vielfaches Spurwechseln durchaus zu Karambolagen führt, von verschlungenen Pfaden auf moorigem Untergrund, die nur Fährtenleser oder der Wilderer entziffern können, von Tanzgruppen mit Partnerwechsel, von denen alle Betrachtenden nur Momentaufnahmen erhaschen, im Bild eines Busches mit mehreren Stämmen oder eines Wellendiagrammes mit sich ständig wieder verschiebenden Kontaktzonen.“

Angela Standhartinger, „Parting of the Ways“. Stationen einer Debatte, in: Evangelische Theologie 6, 2020, 406–417, 415f.

Tatsächlich gab es lange Zeit Anhänger der Christus-Gruppe, die jüdische Rituale durchführten und sich an die Speisegebote und Reinheitsregeln hielten, auch wenn sie vorher kein jüdisches Bekenntnis hatten (auch heute noch gibt es solche messianischen Juden). Auch von außen waren die beiden Gruppen scheinbar schwer unterscheidbar. So hatten römische Quellen bis weit ins zweite Jahrhundert Mühe, die beiden Gruppen wirklich auseinander zu halten (die ausschließlich von Tacitus bezeugte angebliche Christenverfolgung nach dem Brand Roms 64 n.Chr. wird heute weitestgehend als unzutreffend eingestuft). Bis heute lesen Christen die heiligen Schriften der Juden als Teil ihrer eigenen. Genauso sind die neutestamentlichen Bücher in der Regel Texte, die von Juden verfasst wurden (das gilt mindestens für die Paulusbriefe wie auch die Evangelien). In der Forschungsliteratur begegnet uns dieser Fakt jedoch noch anders: Die Autoren der Evangelien werden beispielsweise in Juden- und Heidenchristen unterteilt, ohne über die richtige Einteilung einen Konsens zu finden.

„Möglicherweise ist er [der Evangelist Lukas] ein ‚Gottesfürchtiger’, ein ehemals der Diaspora-Synagoge nahe stehender Heidenchrist; andere vermuten einen hellenistisch gebildeten Judenchristen.“

David C. Bienert, Bibelkunde des Neuen Testaments, Gütersloh 32021, 77.

Selbst in der Zeit, in der mehr Mitglieder zu den Christusgruppen gehörten, die vorher keine jüdischen Gemeindeglieder waren, war die christliche Lehre noch lange nicht unabhängig von ihren jüdischen Wurzeln und die Einhaltung jüdischer Regeln keinesfalls obsolet.

Woher kommen nun aber die Spannungen, die wir in den neutestamentlichen Texten wahrnehmen? Eine antike jüdische Synagogalgemeinde in der Diaspora vereinte in der Regel verschiedene Gruppierungen. Einerseits waren sie einzuteilen nach dem Grad ihrer ethnischen Verbindung mit dem Judentum: geborene Juden und gewordene Juden, wobei man dort noch zwischen zwei Gruppen unterscheidet. Die Proselyten waren komplett konvertierte Personen, das hieß, dass die Männer noch im Erwachsenenalter beschnitten wurden. Die Gottesfürchtigen konnten eine sehr unterschiedliche Nähe zur Gemeinde haben, von reiner monetärer Förderung bis hin zu einem Vorproselytenstatus.

Die Forschung geht heute davon aus, dass die Christusgruppe vor allem in diesen beiden Gruppen Missionserfolge verzeichnete. Nun gab es neben den vielleicht bereits vorhandenen unterschiedlichen theologischen Strömungen eine weitere, die in vielen Fällen sehr von ihrer Meinung überzeugt war und in vielen Fällen die jüdische Lebensführung aufgab.

Visualisierung: Nicole Oesterreich

Es ist recht typisch, dass die Nähe von zwei Gruppen zu umso heftiger ausgetragenen Konflikten führt. Insgesamt sind die im Neuen Testament anklingenden Konflikte keine zwischen zwei Religionen, sondern zwischen zwei unterschiedlichen Auffassungen der gleichen Religion.

Antijudaistische Tendenzen in neutestamentlichen Texten?

Es gibt einige sehr deutlich gegen „Juden“ gerichtete Texte im Neuen Testament. Zu den bekanntesten gehören die folgenden drei Verse im Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessalonich.

1Thess 2,14–16

14 Denn, Geschwister, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt wie auch sie von den Juden, 15 die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, 16 indem sie – um ihr Sündenmaß stets voll zu machen – uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.

1Thess 2,14–16

Tatsächlich hat dieser Text eine unrühmliche Rezeptionsgeschichte. Die Sache mit der Tötung Jesu durch die Juden war ein Hauptargument im späteren christlichen Antijudaismus. Aber was ist eigentlich gemeint? Paulus parallelisiert an dieser Stelle die Gemeinde in Thessalonich mit den Gemeinden in Judäa, was die Verfolgung durch die eigenen Landsleute angeht. Paulus selbst hatte ja vor seiner Christusvision als eifernder Anhänger der Pharisäer die Mitglieder der Christusgruppe verfolgt (Gal 1,13f.), um die väterliche Überlieferung zu bewahren (πατρικῶν παραδόσεων).

Die „Juden“ sind in diesem Text jedoch nicht alle jüdischen Menschen, sondern Paulus wettert gegen eine bestimmte Gruppe, die in seiner Interpretation die Tötung von Jesus vorangetrieben hatte und später auch die ersten Gemeinden der Christusanhänger und Paulus verfolgten. Sie versuchten scheinbar mit aller Kraft die Ausbreitung dieser neuen Variante des Judentums zu verhindern, indem sie den Christusanhängern die Predigt in den Synagogen verweigerten: Eben weil sie die Überlieferung der Väter und damit ihre eigene Interpretation des Judentums durchsetzen und erhalten wollten.

Paulus wird unter anderem deshalb an dieser Stelle so deutlich, weil es sich um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelt. Diplomatie braucht es hier viel weniger als bei einem Konflikt mit Außenstehenden. Vermutlich ist Paulus von dieser Gruppe als abtrünniger Rechtgläubiger betrachtet worden. Paulus wiederum sah nach seiner Christusvision das Heil für seine Glaubensgenossen nicht als verloren an. Aber er hielt es für eine Sünde, nichtjüdischen Menschen das Heil, das sie durch die Christusbotschaft erlangen konnten, zu verwehren. Man kann sich vorstellen, dass der Konflikt von beiden Seiten scharf geführt wurde.

Schon hier (50/51 n.Chr.) wird deutlich, dass das Zusammenleben der Anhänger des Christusglaubens (Juden) und solchen Juden, die es nicht waren, in den Synagogalgemeinden zu starken Konflikten führen konnte und wohl in vielen Fällen geführt hat.

Joh 8,31–59

Auch das Johannesevangelium zeugt etwa 50 Jahre später von diesem weiterhin scharf geführten Konflikt: In 8,31–59 wird ein langes Streitgespräch zwischen Jesus und eigentlich zum Christusglauben gehörenden Juden geschildert. Jesus versucht seine Position deutlich zu machen, aber scheinbar reden Jesus und die Angesprochenen aneinander vorbei.

In 8,40 taucht der Vorwurf wieder auf, dass die Juden Jesus töten wollten. Klaus Wengst versucht das folgendermaßen einzuordnen:

„Dieser Topos ist auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten. Dominant dürfte die eigene Erfahrung der johanneischen Gruppe sein. Es fanden sich gerade auch in diesem Abschnitt Indizien, dass das Problem der Apostasie eine Rolle spielte; und Apostaten mögen – wie schon gesagt – leicht dazu neigen, ihren einstigen ‚Irrtum’ in Gestalt derjenigen zu bekämpfen, die ihm noch anhängen. Die pauschale Fixierung der ‚Juden’ auf die Tötungsabsicht gegenüber Jesus dürfte Rückprojektion aus der eigenen Situation sein, in der man sich von der umgebenden jüdischen Mehrheit bedrängt fühlt. Die zweite Ebene ist die der Darstellung des Evangeliums. Hier ist es nun bemerkenswert, dass die in den Kapiteln 5, 7 und 8 pauschal ‚den Juden’ unterstellte Tötungsabsicht in Spannung zu dem steht, was Johannes in der Passionsgeschichte tatsächlich erzählt. Dort gebraucht er zwar auch die Formulierung ‚die Juden’, aber vom Kontext her ist deutlich, dass damit konkret nur die Oberpriester – und allenfalls noch ihre Diener – gemeint sind. Ihnen schreibt er größere Schuld zu als Pilatus (19,11). ‚Viele Juden’ treten erst in 19,20 auf, als Jesus schon gekreuzigt ist. Im Blick auf die historische Ebene schließlich kann m.E. gerade die Darstellung des Johannesevangeliums Wahrscheinlichkeit beanspruchen, dass nämlich Repräsentanten der jüdischen Führung, vor allem die Oberpriesterschaft, aus Gründen politischer Opportunität Jesus als (potentiellen) Aufrührer dem römischen Präfekten in die Hände gespielt haben (vgl. Joh 11,47–50). Die geschichtliche Überlieferung darüber wird dann aus der Erfahrung der eigenen Zeit heraus, in der man sich um Jesu willen im Gegensatz zur jüdischen Mehrheit findet, pauschalisiert.“

Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10 (ThKNT 4,1), Stuttgart/Berlin/Köln 232000, 332.

In Joh 8,44 wird von Jesus der Vorwurf erhoben, die Juden, mit denen er spricht, seien sogar „Kinder des Teufels“. Die Angesprochenen wiederum werfen Jesus vor, dass er ein Samaritaner sei (in unserer Sprache ein Häretiker/Abtrünniger) und einen Dämon habe (in heutigem Deutsch, er sei übergeschnappt/verrückt geworden).

„Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben.“

Joh 8,44

Diese hitzige und auch mit Beleidigungen geführte Auseinandersetzung spiegelt sehr schön den Status des Konflikts in der Entstehungszeit des Johannesevangeliums, also am Ende des 1. Jahrhunderts. Jesus tritt mit einem großen Sendungsbewusstsein auf. Die jüdische Synagogalgemeinde will sich nicht von ihrem ursprünglichen Weg überzeugen lassen. Der Bruch zwischen Christusgruppe und Synogagalgemeinde ist an dieser Stelle bereits vorgezeichnet.

Was folgt daraus?

Die kurz besprochenen Texte gehören nicht gerade zu den am häufigsten in der Kirche verwendeten. Aber Spuren der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen jüdischen Gruppierungen und der Jesus-Gruppe finden sich auch an anderen Stellen: Die Darstellung der Pharisäer zum Beispiel ist deshalb so polemisch, weil die Positionen, die Jesus nach den Evangelien vertrat, denen der Pharisäer sehr ähnelten. Die Abgrenzung musste daher über andere Wege erfolgen. Auch die Bergpredigt enthält zum Teil solche Abgrenzungstendenzen.

Die besagten Texte kann man keinesfalls dafür verwenden, eine Ablösung des Judentums durch das Christentum zu behaupten oder jüdische Menschen zu diffamieren. Auch, wenn die These, dass die jüdische Oberschicht vermutlich ein Interesse daran hatte, Jesus um des Friedens mit den Römern und der Gemeinschaft willen auszuliefern, eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, darf dies nicht zu einer Abwertung des jüdischen Glaubens oder jüdischer Menschen führen. In ihrer historischen Situation war die Reaktion der jüdischen Oberschicht schließlich völlig verständlich, hing die Ruhe in Bezug auf die römische Herrschaft schließlich stets am seidenen Faden am Beginn des 1. Jahrhunderts.

Nicht zu vergessen ist bei der Frage nach antijudaistischen Tendenzen in neutestamentlichen Texten die eigene unrühmliche Auslegungstradition der Texte. Nicht nur Kommentatoren des 20. Jahrhunderts neigten dem Antisemitismus zu, sondern auch schon die Reformatoren. Jegliche eigene Bibel- und Sekundärliteraturlektüre muss darum kritisch hinterfragt werden.

Die gemeinsame Vergangenheit der beiden Religionen sollte für mehr Verständnis und Respekt für jüdische Menschen führen, allerdings ohne dabei jüdische Elemente für sich zu reklamieren oder zu verklären. Das Judentum hat sich genauso weiterentwickelt wie das Christentum. Beide reklamieren mittlerweile ihre eigene Identität für sich und das ist gut so. Aber die Kirchen und alle Christinnen und Christen haben nicht erst seit der Shoah die Verpflichtung das Judentum als Herkunfts- und Schwesternreligion besonders zu achten und jedem Antisemitismus entschieden entgegen zu treten, sondern schon seit den Anfängen der Jesus-Gruppe. Das gilt nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in Schule, Christenlehre und Gemeinde. Unterrichtsmaterialien, Erzählungen oder Predigten enthalten manchmal implizit antisemitische oder antijudaistische Vorurteile. Diese sollten ausgemustert, statt weiter tradiert werden. Antisemitischer Kanzelrede sollte entschieden mit Widerspruch begegnet werden.

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Röm 11,25–27

Literatur:

  • Markus Öhler, Geschichte des frühen Christentums, Göttingen 2018.
  • Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10 (ThKNT 4,1), Stuttgart/Berlin/Köln 232000.
  • Angela Standhartinger, „Parting of the Ways“. Stationen einer Debatte, in: Evangelische Theologie 6, 2020, 406–417.
  • Louis H. Feldman, Judaism and Hellenism Reconsidered (Supplements to the Journal for the Studies of Judaism 106), Brill/Leiden/Boston 2006, insbesondere Kapitel 7 Hatred for and Attraction to the Jews in Classical Antiquity.
  • Hermann Lichtenberger, Judaeophobia – von der antiken Judenfeidnschaft zum christlichen Antijudaismus, in: Gabriela Gelardini, Kontexte der Schrift (Bd. 1). Text, Ethik, Judentum und Christentum (FS Ekkehard Stegemann), Stuttgart 2005, 168–181.
  • Maurice Casey, Some Anti-Semitic Assumptions in the Theological Dictionary of the New Testament, in: Novum Testamentum 41 (3), 1999, 280–291.